Macht ist an sich unsichtbar. Sie inkarniert sich aber in verschiedenen Formen, so zum Beispiel im Körper des Herrschers oder der Herrscherin, dem in dieser Rolle eine Qualität zukommt, die einen ‘normalen’ menschlichen Körper übersteigt. Dieser duale Aspekt machtvoller Verkörperung hat Ernst Kantorowicz in seiner bekannten Studie «The King’s Two Bodies» (1957) ausgearbeitet. Anhand juristischer und theologischer Doktrinen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit weist er nach, dass der König mehr als nur einen Körper hat: Sein sterblicher «natürlicher» Körper (body natural) ist durch die Fiktion eines unsterblichen «politischen» Körpers (body politic) supplementiert, durch den er die Würde und Macht der Monarchie repräsentiert. Der zweite Körper erfüllt massgeblich zwei Funktionen: Zum einen sichert die Fiktion eines sublimen «Über-Körpers», der im Falle des Todes eines Königs von einem sterblichen Körper auf einen anderen übertragen werden kann, den überindividuellen Bestand des Königtums. Zum anderen fungiert dieser Körper als Repräsentanz aller Untertanen und ermöglicht so die Identifikation aller Subjekte mit der sie umfassenden Gemeinschaft.

Auf Kantorowicz Werk wird immer wieder rekurriert, um anhand des Paradigmas des Königs ebenjenem Konnex von Macht und Verkörperung nachzuspüren. Slavoj Žižek begründet die Logik der zwei Körper aus psychoanalytisch-kulturphilosophischer Warte. Er führt die Verdopplung des Königskörpers auf seine einzigartige Stellung innerhalb der symbolischen Ordnung zurück, die ihn zum Lacanianischen «Objekt klein a» und damit zum Träger eines besonderen Charismas macht. Žižek versucht in «Die Grimassen des Realen» (1993) zu ergründen, wie sich die traditionelle Zwei-Körper-Logik vom sublimen Körper des modernen Führers unterscheidet.

Auch Eric Santner widmet sich der Frage nach der Transformation der Erscheinungsformen des zweiten Körpers im Übergang zu demokratischen Nationalstaaten. In «The Royal Remains» (2011) argumentiert er, dass der zweite Körper des Königs, welcher der Souveränität und dem sozialen Band eine fleischliche Dimension verlieh, nach der Absetzung der Könige im 19. Jahrhundert nicht aus dem politischen Feld verschwand. Denn auch das demokratisch konstituierte Volk, so die These Santners, verfügt über einen sublimen zweiten Körper, der nicht weniger phantasmatisch ist als der göttlich beglaubigte Königskörper. Der zweite Körper des Volkes präsentiert sich nun nicht mehr in einem transzendent autorisierten Königskörper, sondern in der scheinbar materiellen Form des «Fluidums» oder der «Rasse». In der Moderne sei es die Biopolitik, die die «sublime Lebenssubstanz des Volkes» hervorbringe.

Die auf drei unterschiedliche, aber verwandte Weisen vorgebrachte Theorie der zwei Körper kann als eine Artikulation der religiösen Grundlagen der Vergemeinschaftung verstanden werden. Im Blockseminar soll die Relevanz dieser Thesen für eine auch psychoanalytisch akzentuierte Religionstheorie gemeinsam herausgearbeitet werden.

(Janina Kölbing & Jürgen Mohn)

In dem Seminar wollen wir ausgewählte Texte von vier Autor:innen lesen und diskutieren, um deren psychoanalytische Grundlagen im Hinblick auf Religion gemeinsam herauszuarbeiten und religionswissenschaftlich zu evaluieren. Dabei leitet uns die theoretisch akzentuierte Fragestellung, wie diese Autor:innen in ihren Texten ihr spezifisches Verständnis bzw. ihre Thematisierung von Religion psychoanalytisch herleiten und begründen.
Die Psychoanalyse wurde von Freud als die letzte der drei Kränkung der Menschheit (nach Kopernikus und Darwin) beschrieben, die das anthropozentrische Weltbild zerstörten: Nach dem Verlust des kosmischen Mittelpunktes der Erde und des Selbstbewusstseins als Krone einer göttlichen Schöpfung, verlor der Mensch mit Freuds Theorie des Unbewussten zudem die Autonomie im eigenen Haushalt seiner Psyche. Freuds letzte Kränkung des Menschen hat damit sowohl in religionshistorischer als auch religionstheoretischer Hinsicht einen wichtigen Ort in der neueren Religionsgeschichte und anthropologischen Theoriebildung inne, weshalb es umso mehr überrascht, dass die Religionswissenschaft sich bislang nur am Rande und gegenstandskritisch mit den Einsichten und Theorien bzw. Konstatierungen der Psychoanalyse und ihren weiteren Entwicklungen beschäftigt hat. Eine tieferreichende religionstheoretische Auseinandersetzung bzw. Aneignung und Weiterführung psychoanalytischer Positionen steht in der neueren religionswissenschaftlichen Theoriedebatte noch aus.
Wir suchen hierzu einen ersten Zugang zur psychoanalytischen Thematisierung von Religion bei prominenten Vertreter:innen der Psychoanalyse und versuchen dabei, sowohl die Grundkonzepte psychoanalytischer Religionsverständnisse zu erörtern als auch mögliche Anwendungen psychoanalytischer Denkweisen in der Religionswissenschaft zu diskutieren. Dabei gehen wir von Texten aus, die das Thema Religion und Glaube explizit thematisieren. Das Seminar wendet sich zunächst den Grundkonzepten Sigmund Freuds zu, die wir anhand von einführenden Auszügen vergegenwärtigen. Darauf aufbauend stellen wir drei französischsprachige Autor:innen in den Mittelpunkt, die sich in ihrer psychoanalytischen Auseinandersetzung mit Religion explizit auf Freud zurückbeziehen. Ergänzt wird das Seminar durch einführende Kurzreferate zur Biographie und den Grundkonzepten der vier Autor:innen.
Das Seminar findet in einem ausseruniversitären Rahmen statt und soll zur offenen Diskussion eines wichtigen und zugleich in der Akademie wenig beachteten Themas beitragen. Erwartet wird die Bereitschaft, sich auf die Texte und ihre Autor:innen einzulassen. Wir erhoffen uns durch das Seminar Anregungen für eine Erneuerung der Theoriedebatte in einer Religionswissenschaft, die psychoanalytische Zugänge nicht tabuisiert.

(David Atwood, Jürgen Mohn)

In dem Blockseminar (dem dritten Beuggener Theorie-Seminar) werden wir uns einem französischen Theoretiker und Diagnostiker unserer durch das Recht konstituierten wissenschaftlich-technologischen Religionslandschaft zuwenden: Pierre Legendre ist ein unorthodoxer Denker, der keiner französischen Denk- oder gar Schulrichtung des Mainstreams zugeordnet werden kann. Sein Denken speist sich aus der Rechtsgeschichte, aus der Psychoanalyse Freuds und Lacans, aus der kritischen Auseinandersetzung mit den unterschiedlichsten Wissenschaften und nicht zuletzt aus seinen praktischen Erfahrungen in Afrika und mit den administrativen Eliteschulen Frankreichs. Seine Rezeption in der deutschsprachigen Wissenschaftskultur lässt allerdings zu wünschen übrig, obwohl ein nicht kleiner Teil seines grossen Werkes bereits übersetzt wurde. Es gilt daher, ihn gerade auch für die Religionswissenschaft zu entdecken und von ihm zu lernen. Viele seiner Beobachtungen (auch im Medium Film) sind faszinierend und charakterisieren treffend zeitgenössische religiöse Phänomene. Und doch wirken seine Gedankengänge und Argumentationen auch immer etwas unsystematisch und rätselhaft, eben diskussions- und interpretationsbedürftig. Daher wollen wir uns anhand von ausgesuchten übersetzten Texten, die für die Beschreibung von Religion und ihren vielfältigen Transformationen in der Gegenwart von grosser und erfrischender Bedeutung sein können, seinem Verständnis der religiösen Aspekte und Genealogien (er nennt das Filiationen) der modernen Gesellschaften zuwenden. Religionen sind für ihn zunächst einmal Systeme der Referenz, ähnlich und untrennbar verbunden mit den Rechtssystemen der modernen, insbesondere der abendländischen Gesellschaften. Welche Referenzen nimmt er als Religion in den Blick? Es geht um solche, die eine Instanz in Anspruch nehmen, die die Identität und Legitimität einer Gesellschaft und damit einen Grund zum Leben garantieren. Die Metapher des Spiegels spielt dabei eine grosse Rolle, denn es ist wie der erste kindliche Blick in einen Spiegel dieses sogenannte Spiegelstadium (in Anschluss an den Psychoanalytiker Jacques Lacan), das das erste eigene Bild (Selbstbild) darstellt, das die erste Selbstreferenz des Kleinkindes herstellt und damit zu dessen Subjektwerdung beiträgt. Die sich durch den ersten Blick in den Spiegel sich ergebende Struktur zeigt dem Kind, wer es ist. Hierbei spielt wiederum die Referenz auf die Eltern, die dem Kind gegenüber das Bild im Spiegel als das seinige beglaubigen, die Rolle einer Beglaubigungsinstanz, eines fundamentalen Grundes der Subjektivität des Kindes. Dieses Stadium überträgt Legendre auf die Legitimationsinstanzen in den Gesellschaften und fragt, wie gesellschaftlich ein Grund zum Leben und dann durch welche Instanz garantiert werden könne. Hier kommt Religion ins Spiel, weil diese die Referenz auf den absoluten Dritten, Gott oder die Elterninstanz herstellt. «Fabrikation», «theatrale Inszenierung» oder «Montage» sind die Begriffe, die Legendre für die Identitätsstrukturen der Gesellschaft verwendet. Inwiefern in dieser Struktur Religion zum Ausdruck kommt und daher die Macht und das Politische oder Rechtliche immer durch eine religiöse Struktur bestimmt sind, wollen wir in dem Seminar im Anschluss an die Texte Legendres diskutieren.

(David Atwood, Jürgen Mohn)

In dem Blockseminar (dem zweiten Beuggener Theorie-Seminar) werden wir uns der intensiven Diskussion weniger religionsbezogener Texte des ‚kritischen‘ Soziologen Pierre Bourdieu widmen. In seinem umfangreichen Werk, das durch eine relationale und reflexive Theorie der Strukturen und Akteure sozialer Felder gekennzeichnet ist, spielt das „religiöse Feld“ eine kleine, weil von Bourdieu kaum ausformulierte, aber doch sehr wichtige Rolle: es ist das Feld, das die Denk- und Handlungsstrukturen der „Akteure“ des gesellschaftlichen Felds (also aller Menschen in ihren sozial geprägten Rollen), ihren „Habitus“, ihr „symbolisches Kapital“ und ihre Weltsicht bestimmt und geradezu manipuliert, das dadurch aber auch die sozialen und ökonomischen sowie Machtpositionen im gesellschaftlichen Feld legitimiert. In diese Theorie gehen insbesondere eine Auseinandersetzung mit den Theorien von Émile Durkheim, Max Weber, eine kritische Anknüpfung an Karl Marx‘ Begriff des Kapitals, an den Strukturalismus und den symbolischen Interaktionismus ein. Seine „Interpretation der Religion nach Max Weber“ (ein Aufsatz, den wir intensiv diskutieren werden), die ein ‚nach‘ im Sinne des Anschlusses, aber auch des Überwindens und Zurücklassens meint, ist uns Anlass, danach zu fragen, wie wir ‚nach‘ Bourdieu ‚Religion‘ ebenfalls in diesem doppelten Sinne, an Bourdieu anknüpfend und ihn zurücklassend, interpretieren können. Zudem kommen nach den relevanten Aufsätzen aus dem Jahr 1971 weitere Aufsätze aus dem Jahr 1982 insbesondere zur sogenannten Frage nach der „Auflösung des Religiösen“ (so der deutsche Titel eines Aufsatzes) oder besser der Transformation des religiösen Feldes in der Gegenwart hinzu. Hochrelevante Fragen zur Auflösung der Unterscheidung von religiösen Spezialisten und Laien durch Individualisierung von Religion und der Bedeutung von Influencern, Trainern und Therapeuten als gleichsam neuen religiösen Spezialisten in unserer sozialen Umwelt und in den digitalen Medien bieten sich zur Abschlussdiskussion an.

(David Atwood, Jürgen Mohn)

Die Systemtheorie von Niklas Luhmann nimmt nicht nur in der Religionswissenschaft bzw. der Religionstheorie gegenwärtig eine bedeutende und herausfordernde Stellung ein, sondern in allen Kultur- und Sozialwissenschaften muss man sich irgendwie – ablehnend, annehmend, angeregt, anschliessend, ignorierend oder kritisch - zu ihr verhalten. In dem Seminar sollen anhand des von ihm ebenfalls beschriebenen Religionssystems der Gesellschaft die Grundlagen der Luhmann’schen Gesellschaftstheorie erarbeitet und diskutiert werden.
Sein Buch Die Religion der Gesellschaft (aus dem Nachlass 2000) sowie der längere Artikel „Die Ausdifferenzierung der Religion“ (1989 in Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 3, S. 259-357) bilden die textliche Grundlage des Seminars.
Die in diesen Texten verhandelte ‚Religion’ hat Luhmann seit langem (bereits 1979 veröffentlichte er Die Funktion der Religion) beschäftigt und gepeinigt. Er war allerdings zu Lebzeiten nicht in der Lage, sein grosses Manuskript zur „Religion der Gesellschaft“ selbst druckreif herauszugeben. Das mag Gründe haben, die sich dem Text, den wir lesen werden, vielleicht entnehmen lassen. Mit unserem Untertitel „religiöse Religionstheorie“ wollen wir genau auf diese Problemlage hinweisen: War ‚Religion’ als Thema der Systemtheorie letztlich nicht eine Selbstthematisierung der ‚religiösen’ Grundprobleme von Luhmanns eigener Gesellschaftstheorie?
Luhmanns Religionstheorie bestimmt Religion als Kommunikation der Gesellschaft. Es gibt keine Kommunikation ohne Vermittlung durch die Medien. Luhmann entwickelt daher zugleich eine dezidierte Medientheorie der Gesellschaft und aller Subsysteme der für ihn ‚funktional’ ausdifferenzierten Gesellschaft unserer Gegenwart, zu denen auch das Religionssystem gehört. Dabei stellt er in Bezug auf das Medium den Begriff „Sinn“ in den Mittelpunkt. Die Gesellschaft bedarf eines Sinn-Mediums – und genau an dieser Stelle kommt ‚Religion’ ins Spiel. Als ‚Sinn’ der Gesellschaft komme der Kommunikation eine religiöse Funktion zu. Was bedeutet das aber, wenn die Gesellschaft insgesamt nichts als Kommunikation ist? Genau das wollen wir zusammen erfragen, erlesen und debattieren. So stellt sich nicht nur zuletzt die Frage, inwieweit die Wissenschaft der Gesellschaft (auch die Luhmanns) diese religiöse Funktion mit übernimmt, also religiös kommuniziert.

(David Atwood, Jürgen Mohn)